01.01.2011

Der Ausschluss aus der Gesellschaft ist beschlossene Sache DBSH fordert Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten gerechter Lebenschancen für alle Menschen

(2011) Der Funktionsbereich Fach-, Sozial- und Gesellschaftspolitik zu den Sparbeschlüssen der Bundesregierung:

Es ist Halbzeit – noch zehn Jahre haben die europäischen Staaten Zeit, die Zahl der von Armut betroffenen Menschen um 20 Millionen auf dann noch immer 60 Millionen betroffene Menschen zu senken. Diese Verabredung wurde auf einem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 in Lissabon getroffen.

Doch ausgerechnet im „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ erleben wir, wie die aktuelle Politik erneut dafür sorgen wird, dass die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Deutschland weiter steigen wird:

  • Nach wie vor lehnt die Bundesregierung einen gesetzlichen Mindestlohn ab. Mit der Zunahme von Niedrigstlohnjobs werden immer mehr Menschen ergänzend Hartz IV-Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Damit steht die Bundespolitik im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern und den Vorschlägen der EU-Kommission. László Andor, EU-Kommissar, dazu: „Mindestlöhne sind ein Schlüsselinstrument zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung“.
  • Das Bundesverfassungsgericht hat noch im Frühjahr eine ausreichende finanzielle Unterstützung als unverzichtbaren Bestandteil der Würde des Menschen bestätigt. Die damit verbundenen Leistungen müssen transparent begründet werden und Beiträge zur kulturellen Teilhabe enthalten. Die Bundesregierung ist diesem Gebot gleich mehrfach nicht gefolgt. Die Regelsätze wurden politisch niedrig gerechnet. Statt die unteren 20 % der Einkommen, wie vom Verfassungsgericht vorgegeben, zur Grundlage zu machen, wurden lediglich die unteren 15 % mit der Begründung genommen, dass die weiteren 5 % HartzIV - EmpfängerInnen seien. Geblieben ist es bei der weiter willkürlichen Festlegung der Alterskategorien, mittels derer die Förderhöhe von Kindern festgelegt wird. Es bleiben viele weitere Ungereimtheiten, etwa wenn für den Erwerb einer Waschmaschine weniger als zwei Euro im Monat vorgesehen sind.
    Im Ergebnis sollen Erwachsene künftig fünf Euro mehr erhalten, Kinder erhalten neun Euro „zu viel“, die jedoch jetzt nicht abgezogen, sondern in den kommenden Jahren mit künftigen Anpassungen verrechnet werden sollen.
  • Die bisher gewährten 160 € bzw. 80 € beim Übergang vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II (Hartz IV) werden gestrichen. Dies wird vor allem ältere Erwerbslose treffen, die nach langer Arbeitstätigkeit keine neue Einstellung finden.
  • Auch Hartz-IV-Empfänger haben bislang einen Anspruch auf Elterngeld in Höhe von 300 Euro pro Monat für die Dauer eines Jahres. Es wurde zusätzlich zum Regelsatz bezahlt. Das Elterngeld soll künftig für diese Gruppe ganz gestrichen werden, nachdem es von der alten Regierung bereits von 24 auf 12 Monate Bezugsdauer reduziert worden war.
  • Die Bundesregierung will für Empfänger von Arbeitslosengeld II künftig auch keine Rentenversicherungsbeiträge mehr zahlen. Bislang zahlt der Staat für jeden Hartz-IV-Empfänger einen Betrag von rund 40 Euro pro Monat an die Rentenversicherung.

Wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben sich alle relevanten Verbände (mit Ausnahme wirtschaftsnaher Organisationen) gegen die Sparpläne der Bundesregierung gestellt. Bedauerlicherweise wird die Kritik oftmals auf die Frage der monatlichen Leistungshöhe verkürzt. Natürlich ist es zunächst Ausdruck großer Unverfrorenheit, wie diese Regierung mit Armut umgeht und die Umverteilung von „unten“ nach „oben“ fortsetzt.

Im Berufsverband für Soziale Arbeit fragen wir uns darüber hinaus, welche Bilder und ideologischen Konzepte im Umgang mit den von Armut betroffenen Menschen und Familien dahinter stehen. Damit verbunden stellen sich für eine Soziale Arbeit, die ethischen Prinzipien (Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe, Wahrnehmen und Fördern von Situation und Potentialen des Menschen, Diskriminierungsfreiheit, usw.) verpflichtet ist, ganz besondere Anforderungen. Dies soll an vier Beispielen verdeutlicht werden:

  • Wer arbeitslos ist, hatte bislang Anspruch auf Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt. Zumeist ging es dabei um Bewerbungstrainings oder Zusatzqualifikationen. Künftig soll es nur noch im Ermessen des Vermittlers liegen, die bisherigen Pflichtmaßnahmen zu vergeben. Darüber hinaus wird das – „neue“ – SGB II (HartzIV) die Möglichkeiten der „Hilfeberechtigten“ weiter einschränken, juristisch gegen Auflagen und Sanktionen vorzugehen.
    Damit sind Langzeitarbeitslose dem jeweiligen Vermittler noch mehr als bis ausgeliefert. Fördermaßnahmen beschränken sich auf wenige und meist wirkungslose Standardprogramme und 1-Euro-Jobs. Hintergrund dieser Verschärfungen ist die empirisch längst widerlegte Annahme, dass erst Sanktionen und „Gehorsamsübungen“ Erwerbslose zur Arbeit motivieren können.
    Statt Befähigung, Beteiligung, Bildung und Aktivierung zu fördern, wird die Arbeit der Jobcenter mehr noch als bisher von Bürokratie, Kontrolle und dem Versuch, Sanktionen zu verteilen, geprägt sein. Bereits heute beschränkt sich vielfach die Förderpraxis auf immer die gleichen Bewerbungstrainings, 1-Euro-Jobs oder Auflagen, wie das Schreiben von 30 Bewerbungen monatlich.

Eine solche Praxis kann nicht als Sozialarbeit beschrieben werden. In Jobcentern und Fördermaßnahmen beschäftigte SozialarbeiterInnen sind aufgerufen, ihre fachliche Expertise kritisch einzubringen. Spätestens, wenn Sanktionen zur Wohnungslosigkeit von jungen Menschen und Familien führen, verstoßen diese gegen die ethische Selbstverpflichtung der Sozialen Arbeit und gegen die Würde des Menschen.

  • Durchaus Zustimmung erhielt in der Öffentlichkeit der Regierungsvorschlag, aus dem Regelsatz 20 Euro als den Betrag herauszurechnen, der im Durchschnitt für Alkohol und Tabak ausgegeben wird (und dafür ca. drei Euro für Mineralwasser einzuplanen). Es ist bekannt, das übermäßiger Tabak- wie auch Alkoholkonsum im „unteren Bevölkerungsdrittel“ (wie auch im oberen Drittel) weiter verbreitet ist als im Durchschnitt – darüber hinaus gibt es einen Zusammenhang zwischen längerer Erwerbslosigkeit und der Zahl und Schwere von Alkoholerkrankungen. In Folge ist davon auszugehen, dass ein gleichwohl relativ kleiner Anteil Hilfeberechtigter sehr viel höhere Kosten für Suchtmittel aufwendet, als der Durchschnitt. Vor diesem Hintergrund sehen wir folgende Botschaften der Bundesregierung:
    - Suchterkrankungen lassen sich durch den Ersatz durch Mineralwasser abstellen;
    - Wer arm ist, muss selbstredend für die Aufwendungen der Suchtabhängigen bezahlen;
    - Wer arm ist, für den muss eine Flasche Bier am Tag Luxus sein.

    Neben dem offensichtlich diskriminierenden Charakter dieser Sichtweise vollzieht die Bundesregierung einen weiteren Wechsel in der Sichtweise der Armen: Sie müssen sich in Zukunft vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben. Mit der gleichen Begründung könnte man zum Beispiel den Erwerb von nur einlagigem Toilettenpapier vorschreiben.

Der freie Zugang zu Konsumgütern gehört zur Würde des Menschen. Soziale Arbeit will Autonomie und Teilhabe fördern, eine Politik aber, die bis in das Alltägliche hinein reglementieren will, nimmt die betroffenen Menschen nicht ernst, im Gegenteil, individuelles Schicksal wird bestraft.
Wenn darüber hinaus noch „Suchtkosten“ als Durchschnittskosten aller Hilfeberechtigten verrechnet werden, werden diese in ihrer Gesamtheit diskriminiert. Eine Soziale Arbeit aber, die befähigen will, muss scheitern, wenn die Botschaft der Gesellschaft aus Entmündigung, Reglementierung und Ausgrenzung besteht.

  • Für arme Familien wird das Elterngeld gestrichen. Die Bundesregierung glaubt, dass dies dadurch weniger ungerecht wird, wenn das Elterngeld nicht als familienpolitische, sondern als Leistung der Arbeitsmarktpolitik beschrieben wird. Für viele junge Frauen, für die ihre Schwangerschaft vielfach ein Bruch mit ihrer beruflichen Biografie bedeutet, war das Elterngeld auch Ausdruck von dem Willkommen gegenüber Kindern und davon, dass sie, zumindest finanziell, nicht allein gelassen werden.

Mit dieser Argumentation werden im Kern zwei Botschaften gesendet:

Wer (Einkommen) hat, dessen Kinder sind willkommen, wer keines hat, der sollte sich doch bitte überlegen, ob er sich ein Kind „leisten“ möchte.

Kein deutscher Politiker würde diese Absicht einräumen. Tatsächlich aber greift dieser „Sparbeschluss“ auf ein in den USA erprobtes Politikkonzept aus der Regierungszeit Bill Clintons zurück (dieser hatte die bundesstaatliche Unterstützung bei mehr als einem Kind abgesenkt). Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk und der deutsche Ökonom Gunnar Heinsohn forderten noch 2009 die Reduzierung von „Unterschichtengeburten“, Heinsohn kritisierte, dass Arme Erziehungsgeld erhalten würden.
Damit ist die Bundesregierung einer Politiklinie gefolgt, die andere Wissenschaftler als „Sozialdarwinismus“ kritisieren (vgl. zu allem: wikipedia, Stichwort „neue Unterschicht“). So wundert es nicht, wenn kurz nach dem Erstarken der Kritik an dem Sparpaket der Bundesregierung Politiker wie Sarrazin wieder Gehör finden. Im Oktober 2009 formulierte er: „Wir haben in Berlin vierzig Prozent Unterschichtengeburten, und die füllen die Schulen und die Klassen, darunter viele Kinder von Alleinerziehenden. Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: weg von Transferleistungen, vor allem bei der Unterschicht.“ Dem folgte dann 2010 Sarrazin`s Theorie nationalstaatlicher Gene, die sich durch Bildungsferne auszeichnen. Ähnlich, mit jeweils anderer Schwerpunktsetzung, äußerten sich auch andere Politiker wie etwa Seehofer und Buschkowsky. Letztgenannte meinte am 27.10.2009 in der „Welt“, dass staatliche Transferleistungen „von der deutschen Unterschicht versoffen“ würden und von der ausländischen Unterschicht Erziehung auf die „Oma aus der Heimat“ übertragen werden würde. Folgerichtig musste Seehofer ein Verhindern (der faktisch kaum) stattfindenden Einwanderung fordern. Ausgrenzung – und nicht Inklusion und Bekämpfung von Armut – sind in völliger Umkehrung der offiziell formulierten Absicht Ziel der Regierungspolitik.

  • Für Kinder armer Familien wird – bei faktischem Senken des Regelsatzes – ein „Bildungspaket“ offeriert, das in einem Wert von zusätzlich ca. 10 Euro im Monat als Gutschein oder „Karte“ nicht den Kindern/Eltern übertragen wird, sondern von den Jobcentern direkt an Leistungsanbieter wie Sportvereine, Musikschulen, Nachhilfeangebote oder Mittagstischanbieter in Schulen weitergereicht wird. Zu Recht haben Wohlfahrtsverbände das Paket als Bürokratismus, Überforderung der Jobcenter, unzureichend und nicht praktikabel kritisiert: Wenn etwa der Monatsbeitrag für die Musikschule 30 Euro ausmacht (zuzüglich Fahrtkosten), der Mittagstisch täglich drei Euro kostet (also die Eltern zuzahlen sollen), Nachhilfe auch Aufgabe der Jugendhilfe ist usw., wird deutlich, dass weder die Summe ausreichend ist, noch wirklich eine grundlegend bessere Bildungsförderung und Unterstützung der Erziehungskompetenz der Eltern erreicht wird.

Vor dem oben genannten (ideologischen) Hintergrund gewinnt auch das „Bildungspaket“ eine ganz andere Bedeutung: „ Lassen sich Geburten in armen Familien schon nicht verhindern, so soll soweit als möglich die Erziehung der Kinder staatlich bestimmt werden, weil Eltern unfähig sind, die entsprechenden Leistungen mit und für ihre Kinder auszuwählen“, so scheint das heimliche Drehbuch der Bundesregierung zu lauten.
In der Folge wird das Kriterium „Armut“ automatisch verbunden mit der Unterstellung der Erziehungsunfähigkeit.
Dabei mag es im Einzelfall durchaus zutreffen, dass Eltern ihre Erziehungspflichten vernachlässigen oder ihnen nicht entsprechend nachkommen (können). Wenn es solche Defizite aber gibt, so lassen sich diese mitnichten über ein „Bildungspaket“ aufheben, dass in seiner Wertigkeit bestenfalls die Bedeutung einer halben Mittagsmahlzeit haben wird.

Soziale Arbeit dagegen setzt sich für ein umfassendes Bildungs- und Erziehungsverständnis ein, das Elemente wie materielle Unterstützung, schulische Förderung, Förderung der Erziehungskompetenz der Eltern und die Vermittlung sozialer Kompetenzen und Teilhabechancen miteinander verbindet. Ein Festschreiben von Armut, die Stigmatisierung armer Menschen und eine Ideologisierung von Armut lehnt die Profession ab. Entsprechend finden die Sparbeschlüsse, neuen Regelsätze und Hartz IV-Regelungen unseren entschiedenen Widerstand.

Alle Handlungsforschung belegt, dass sich Armut über sozialräumliche Segregation, über mangelnde Bildungsinfrastruktur, ein selektives Schulsystem, materielle Not, fehlende Unterstützungsangebote, Ohnmachtserfahrung, sozialräumliche und formale Ausgrenzungen selbst reproduziert. Fragen nationaler Herkunft haben nur noch eine sehr geringe Bedeutung. Nicht die Frage, woher die Eltern kommen, prägen die Chancen von Kindern und Jugendlichen, vielmehr sind es z.B. der materielle Status der Eltern und der Ort ihres Wohnens.

Damit sehen wir Sozialarbeiter, vor dem Hintergrund unserer fachlichen Expertise und unserer, weltweit geltenden, ethischen Verpflichtung, aufgefordert, Partei zu ergreifen:
Anstatt die Vermögen der Reichen zu besteuern, anstatt von den Banken, die für die Rettung geflossenen Gelder zurückzufordern bzw. die Gewinne der Banken entsprechend zu versteuern, werden die Sozialausgaben gekürzt. Dies entspricht den Empfehlungen neoliberaler Wirtschaftskreise. Der Schutz der Atomlobby durch diese Bundesregierung verschafft den Energiemultis in Deutschland auf Jahre hinaus weiterhin satte Gewinne auf Kosten der Bürger. Der Rückbau des Atomendlagers Asse wird Milliarden verschlingen. Es sind nicht die Verursacher, also diejenigen, die dort den Atommüll entsorgt haben, die den Schaden bezahlen, sondern die Steuerzahler. Wer, wie die deutsche Wirtschaft, die hohe Verschuldung der öffentlichen Hand beklagt, sollte seinen Blick nicht nur auf die Sozialausgaben richten, sondern auf diejenigen, die auf Kosten der Allgemeinheit hohe Gewinne einfahren, wie z. B. auf die Energiewirtschaft, die Banken und die großen Kapitalbesitzer.

Die Soziale Arbeit fordert eine Umkehr dieser Politik. Wir benötigen endlich wieder eine Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten gerechter Lebenschancen für alle Menschen.

Friedrich Maus
Wilfried Nodes